Putins Interkontinentalraketen der Propaganda

In der Vergangenheit wurden Kriege zumeist mit dem Schwert, dem Gewehr oder Bomben ausgefochten. Doch in einer zunehmend komplexen Welt ändern sich auch die Waffen. So bizarr es anmutet, aber die gegenwärtigen Entwicklungen deuten darauf hin, dass Kriege der Zukunft auch mit dem Like-Button ausgefochten werden.

Auszug aus dem Buch „Die Geister, die ich teilte“ von Fritz Jergitsch, erschienen im Residenz Verlag

In den vergangenen Jahren entwickelte der Kreml neue Fähigkeiten in der hybriden Kriegsführung, wie etwa durch verdeckt kämpfende Truppen, Söldner, Cyberattacken und Desinformation. Im Zuge dessen erweiterte Russland sein Arsenal um eine mächtige Waffe, die fremde Staaten ins Wanken bringen kann, ohne auch nur einen Schuss abzufeuern: steuerbare Massenmedien.

Schrittweise baute der Kreml einen mächtigen, üppig dotierten internationalen Medienapparat auf, der in mehreren Sprachen das Weltgeschehen aus Sicht des russischen Regimes erzählt. Das Land betreibt im Ausland eine koordinierte Medienarbeit, die keine historischen Parallelen kennt.

Im Jahr 2017 führte ich mit einem US-amerikanischen, politisch hochinteressierten Bekannten eine Diskussion über Donald Trump, Russland und die Medien. „Also ich lese am liebsten RT“, erklärte er. „Das musst du lesen. Die berichten aus einer völlig anderen Perspektive, viel unabhängiger. Ich schätze das. Die Zeitung malt ein zu den anderen Medien völlig konträres Bild der Dinge.“ Ich machte ihn darauf aufmerksam, wofür RT steht: Russia Today, ein von der russischen Regierung finanziertes Staatsmedium. Mein Bekannter hatte keine Ahnung und schien überrascht. Wofür RT eigentlich steht, hatte er davor nie hinterfragt.

Russia Today wurde im Jahr 2005 als englischer Nachrichtensender gegründet, betreibt mittlerweile Büros in aller Welt, sendet in mehreren Sprachen und ist über die gängigsten Kabelanbieter in vielen Ländern in Millionen Haushalten verfügbar. Seine anfängliche, harmlose Funktion: im Ausland ein positives Bild Russlands zu vermitteln, das Image des „bösen russischen Bären“ mithilfe positiver Nachrichten zu verbessern, gute PR für das Land zu machen.

Diese Verwendung änderte sich mit dem Kaukasuskrieg 2008. Am 7. August 2008 startete Georgien eine militärische Offensive auf eigenem Territorium mit dem Ziel, die Kontrolle über die abtrünnigen Provinzen Abchasien und Südossetien zurückzuerlangen. Der Krieg endete nach nur fünf Tagen mit dem Rückzug der chancenlosen Georgier. Russland ging siegreich hervor – zumindest militärisch. Auf dem Schlachtfeld der Propaganda setzte es eine krachende Niederlage. Das überzeugte die russische Führung von der Notwendigkeit eines Strategiewechsels:[1] Die Samthandschuhe wurden von nun an abgelegt.

Der Werbekanal Russia Today mutierte zur Propagandamaschine RT, mit dem Ziel, die Meinungsbildung im Westen im Sinne der russischen Interessen zu beeinflussen und die russischen Positionen in den Diskurs zu injizieren. Als die RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan im Jahr 2012 nach dem Zweck ihres Mediums befragt wurde, antwortete sie: „Aus demselben Zweck, wieso wir eine Armee haben. Im Moment bekämpfen wir niemanden. Aber 2008 kämpften wir. Die Armee kämpfte gegen Georgien, und wir führten den Informationskrieg aus. […] Man kann doch eine Waffe nicht erst dann schmieden, wenn der Krieg bereits begonnen hat.“[2]

Eine neue Waffe im Arsenal der hybriden Kriegsführung nahm ihren Dienst auf.

Korruption und Wirtschaftsmisere im eigenen Land werden in der Berichterstattung von RT prinzipiell verschwiegen. Stattdessen konzentriert man sich lieber auf die „Nazi-Herrschaft des Mobs am Maidan“ in Kiew, Rassenunruhen in den USA oder die Doppelmoral des Westens – Whataboutism, der schon in der Sowjetunion betrieben wurde. Oder wie es Dmitri Peskow, langjähriger Pressesprecher von Wladimir Putin, gegenüber der New York Times formulierte: „Warum kritisiert ihr uns in Tschetschenien und so weiter? Schaut doch, was ihr in den USA selbst macht mit den Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen.“[3]

Camouflage

Jede Kriegswaffe muss getarnt werden, damit der Feind sie nicht erkennt und unschädlich macht. Das gilt auch für Russia Today. Als Camouflage dient eine Fassade aus unaufgeregter, neutraler Berichterstattung über verschiedenste Themen, die von klassischen Medien nicht zu unterscheiden ist. Aus der Deckung wagt man sich nur, wenn russische Interessen im Spiel sind, wie etwa im Fall der Vergiftung von Alexei Nawalny im August 2020. Dann wird durchwegs von einer „Erkrankung“ Nawalnys gesprochen, es kommen Ärzte zu Wort, die eine Vergiftung ausschließen, es wird über eine Täuschungsaktion westlicher Geheimdienste spekuliert und über angeblich abgefangene Gespräche zwischen Berlin und Warschau, die ein abgekartetes Spiel belegen sollen. Das durchgängige Narrativ: Der Westen will Russland einen Mordanschlag umhängen, um weitere Sanktionen zu legitimieren.

Das gelbe Telefon

Dass der Kreml hinter RT steckt, wird zwar offiziell keineswegs abgestritten, aber vor den Besuchern der Seite dennoch gut verborgen. Unter „Über uns“ heißt es: „RT International gehört zu den renommiertesten Medien-Gruppen mit globaler Ausrichtung […]. Dass RT auch in deutscher Sprache produziert, ist nicht zuletzt der Initiative Tausender Menschen im deutschsprachigen Raum zu verdanken, die eine Kampagne mit dem Ziel starteten, RT als alternative Informationsquelle jenseits des Mainstreams auch in deutscher Sprache nutzen zu können.“

In dieser Selbstbeschreibung klingt RT wie ein gefördertes Medienprojekt besorgter Bürger, die sich gegen Medienmanipulation wehren wollen. Nur im letzten Satz heißt es kryptisch: „RT ist eine autonome, gemeinnützige Organisation, die aus dem Budget der Russischen Föderation öffentlich finanziert wird.“

Diese Formulierung soll RT auf eine Stufe stellen mit öffentlich finanzierten Sendern wie BBC, ZDF oder ORF. Doch in keiner dieser genannten Institutionen steht in der Chefredaktion ein verschlüsseltes Telefon mit Direktleitung zum Staatsoberhaupt. Bei RT gibt es das sehr wohl – die Existenz eines „gelben Telefons“ zum „Meinungsaustausch mit dem Kreml“ wurde von Chefredakteurin Simonjan bestätigt.[4]

Russia Today wäre ohne Social Media nicht, was es heute ist. Einen Großteil seines Einflusses erzielt die Mediengruppe im Internet. Alleine das deutsche Outlet des Senders verfügt auf Facebook über eine halbe Millionen Fans, die internationale Version über sechs Millionen. Der mittlerweile gesperrte YouTube-Kanal von RT International knackte als erster News-Kanal die Milliardengrenze und stand zuletzt bei über 10 Milliarden Aufrufen und 16 Millionen Abonnenten.

Russland agiert neben RT auch mit dem Outlet Sputnik, das zur selben Mutterfirma wie RT gehört: der staatlichen Holding namens „Rossija Sewodnja“. Zeitweise zählte Sputnik zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Medien auf Facebook. Seit Dezember 2020 heißt Sputnik „snanews.de“.

Interkontinentalraketen der Propaganda

Auf die Idee, soziale Medien zu Propagandazwecken zu nutzen, brachte den Kreml ausgerechnet der Arabische Frühling. Im Jahr 2013 veröffentlichte der Chef des Generalstabes der Streitkräfte Russlands, Waleri Gerassimov, einen Artikel in einem russischen Militärmagazin. Er hatte in Ägypten beobachtet, wie sich soziale Medien zur Mobilisierung der Massen eignen. Als die Menschen in Ägypten Hosni Mubarak zum Rücktritt zwangen, erkannte er, wie soziale Medien den Zugang zu unzufriedenen, wütenden Bevölkerungsschichten im Ausland eröffnen könnten. Aus militärischer Perspektive tun sich durch Twitter, Facebook und Co. neue Waffen auf, schrieb Gerassimov. Mit diesen könne man ein Protestpotenzial innerhalb einer Bevölkerung gezielt aktivieren und für die eigenen Zwecke einspannen. Die russische Militärdoktrin war von nun an erweitert und umfasste Desinformation via Social Media. Jede neue Waffe will natürlich getestet werden. Auf einen ersten Probeeinsatz musste auch diese nicht lange warten.

Waffentest

Am 11. Jänner 2016 wurde die 13-jährige Lisa F., ein Mädchen aus einer russischstämmigen Familie in Berlin, als vermisst gemeldet. Am nächsten Tag tauchte sie wieder auf und erzählte, sie sei von mehreren ausländischen Männern in einer Wohnung vergewaltigt worden. In Vernehmungen änderte sie die Geschichte mehrmals, anhand von Handydaten rekonstruierte die Polizei, dass sie sich bei einem Freund aufgehalten hatte – aus Angst vor einer Konfrontation mit den Eltern wegen schulischer Probleme.[5] Hinweise auf eine Sexualstraftat während ihrer Abgängigkeit fanden die Ermittler keine.

Diese Erkenntnisse hinderten Sputnik nicht an der Veröffentlichung eines Artikels am 17. Jänner 2016, der von Falschinformationen nur so strotzte: „Ein minderjähriges Mädchen ist in Berlin vergewaltigt worden, angeblich von einer Gruppe von Männern mit Migrationshintergrund“, heißt es gleich im ersten Satz, und weiter: „Die Bürger sprechen von Straflosigkeit und übermäßiger Freizügigkeit gegenüber Verbrechern. […] Die Polizei dementiert sowohl die Vergewaltigung als auch die Entführung.“[6]

Der Artikel, der nur mehr über die Archivseite Wayback-Machine aufrufbar ist, listet Details über den vermeintlichen Tathergang auf. Schließlich präsentiert Sputnik sogar ein „Bekennervideo“, auf dem ein Mann in gebrochenem Deutsch prahlen soll, „er habe mit seinen vier Freunden ein junges Mädchen entführt und vergewaltigt“. Im Hintergrund sei „beifälliges Lachen“ zu hören. Von der Rekonstruktion des wahren Aufenthaltsorts von Lisa F. durch die Polizei sowie ihren widersprüchlichen Aussagen erwähnt Sputnik nichts. Angesichts der Hülle und Fülle der von Sputnik präsentierten „Details“ wirkt das Dementi der Behörden nicht mehr sehr plausibel, ja geradezu dreist.

Die Falschmeldung von Sputnik sorgte für heftige Reaktionen auf sozialen Netzwerken und erzielte Tausende Interaktionen auf Facebook. Es kam sogar zu Protesten vor dem Amtssitz der damaligen Kanzlerin Angela Merkel.

Schließlich schaltete sich sogar Russlands Außenminister Sergei Lawrow ein und warf den deutschen Behörden auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz in Moskau vor, den Fall zu verheimlichen. Aus Gründen der „politischen Korrektheit“, meinte er, habe Deutschland kein Interesse an einer Aufklärung.

Eine Analyse der Ereignisse durch die deutsche Bundesakademie für Sicherheitspolitik einige Monate später kommt zu einem bedenklichen Fazit: Deutschland wurde Opfer einer koordinierten russischen Desinformationskampagne, die der neuen Form der hybriden Kriegsführung des Kremls untergeordnet werden kann[7]. Die deutsche Regierung sei nicht in der Lage gewesen, die substanzlosen Anschuldigungen schnell genug zu widerlegen. Wie der Fall Lisa F. zeigt, können auch klassische Boulevardthemen weitab der „großen Politik“ zu erheblichen politischen Verwerfungen führen. Gerade weil sie so starke Emotionen hervorrufen, können sie ein gewaltiger Hebel sein, um die Stimmung in einem Land für oder gegen etwas zum Kippen zu bringen. Soziale Medien eröffnen den Russen gewissermaßen Zugang zum Sprengstofflager der Volksseele. Alles, was sie tun müssen, ist mit Desinformation zu zündeln.

Im Bann des Kreml-Spins

Die Schlagkraft dieser Waffe im Arsenal des Kremls lässt sich im Forum von Der Standard ablesen. Das Standard-Forum ist die wohl meistgenutzte Diskussions-Plattform Österreichs und gewährt einen ungeschminkten Blick in die Volksseele. Leserkommentare unterhalb von Artikeln über den Putin-Kritiker Alexei Nawalny zeigen, wie treffsicher die Narrative des Kremls in den Köpfen der Bevölkerung platziert wurden. Unter fast allen Nawalny-Artikeln sind die Meinungen im Forum äußerst polarisiert. In einem Standard-Artikel, der sich mit Nawalnys politischem Netzwerk befasst[8], fordert ein User: „Ich würde mir wünschen, dass auch ein Artikel über Nawalnys Gesinnung gebracht wird. Aufgrund einiger seiner Aussagen würde ich ihn als homophob, rassistisch und fremdenfeindlich einstufen. Wäre es nicht auch im Sinne der Objektivität – Die sich Der Standard auf die Fahnen schreibt –, wenn alle Aspekte einer Person durchleuchtet werden?“

Der Kommentar erhält 50 zustimmende und 8 ablehnende Bewertungen. In anderen Nawalny-Artikeln des Standard offenbart sich dasselbe Bild, wie etwa auch im Top-Kommentar zum Artikel über das gewaltsame Vorgehen der russischen Polizei gegen Nawalny-Unterstützer[9]: „Die Berichterstattung ist peinlich, angesichts der Tatsachen, dass in ganz Europa demonstriert wird und überall Demos aufgelöst werden und Randalierer verhaftet werden. Auch traurig, dass nach wie vor kein Journalist die Person und Ideologie Nawalnys durchleuchten will oder darf.“ (34 Upvotes, 16 Downvotes)

In beiden Kommentaren findet sich die Argumentation des Kremls wieder. Seiner Position zufolge handelt es sich bei Nawalny um einen „Rechtsextremen“ und „Homophoben“. Wie so oft haben auch diese Anschuldigungen einen wahren Kern und beziehen sich auf Blogeinträge seiner Homepage aus den 2000er-Jahren. Der Kreml erkannte wohl, dass diese Kritikpunkte im Westen hängenbleiben könnten, und lanciert sie seither über sein Medienimperium.

Dass ein signifikanter Teil der Leserschaft einer österreichischen, liberalen Zeitung die Kreml-Spins de facto übernimmt, zeigt die Reichweite von Putins neuer Wunderwaffe: Es gelingt dem Kreml, ganz normale LeserInnen eines liberalen Onlinemediums Tausende Kilometer von Moskau entfernt in eine Parallelwelt der Information zu sperren und von seiner Erzählung zu überzeugen.

Geschehnisse wie der Fall Lisa sind als Warnschüsse zu verstehen, mit denen Russland den Europäern seine Macht in Erinnerung rufen will. Eine fürwahr paradoxe Situation: Putin missbraucht die Möglichkeiten, die sich ihm durch unsere demokratische Pressefreiheit eröffnen, um sein undemokratisches System bei sich daheim zu stärken. Russland mag über weniger Soldaten, Kampfflugzeuge und Flugzeugträger als die USA und seine europäischen Verbündeten verfügen. Doch im Informationskrieg hat der Kreml derzeit eindeutig die Nase vorne.

Anmerkung: Im Zuge des Ukrainekriegs wurde RT das Verbreiten von Inhalten innerhalb der Europäischen Union am 2. März 2022 verboten.

„Die Geister, die ich teilte“ ist im Tagespresse Shop, beim Residenz Verlag oder im Buchhandel erhältlich. Ich beschreibe darin die Auswirkungen sozialer Medien auf die Gesellschaft.


[1] Golineh Atai: Die Wahrheit ist der Feind, Rowohlt, 2019

[2] Golineh Atai: Die Wahrheit ist der Feind, Rowohlt, 2019

[3] New York Times: RT, Sputnik and Russia’s New Theory of War, 13. September 2017

[4] Time: Russia Today: Vladimir Putin’s On-Air Media Machine, 5. März 2015

[5] Berliner Zeitung: 13-jährige Lisa aus Marzahn: Von der Vergewaltigungslüge zum diplomatischen Gewitter, 29. Jänner 2016

[6] Sputnik: Berlin: Minderjährige vergewaltigt, Polizei tatenlos, 17. Jänner 2016 https://web.archive.org/web/20170204110631/https://de.sputniknews.com/gesellschaft/20160117307158514-berlin-minderjaehrige-vergewaltigt-polizei-tatenlos/

[7] Bundesakademie für Sicherheitspolitik: The Lisa Case – STRATCOM Lessons for European states, 11/2016

[8] Der Standard: Das Netzwerk des Alexej Nawalny, 6. Februar 2021

[9] Der Standard: Mehr als 4000 Festnahmen bei Demos für Kreml-Kritiker Nawalny, 31. Jänner 2021